Da-Da für Redetext und Trompete, Uraufführung 2017

Der Mensch strebt nach Zusammenhang, nach Sinn; deshalb ist es auch so leicht, ihm „Sinn“ anzudrehen, je abstruser, so scheint es, umso besser: er lechzt danach und saugt jeden Blödsinn auf wie ein Schwamm.
Die Dadaisten verweigerten den Sinnbehauptungen ihre Gefolgschaft; zuallererst der, dass ein Weltenbrand, ein großer vaterländischer Krieg zur Reinigung der kulturellen Gemeinschaft des Volks nötig wäre. Diesem Glauben sind ja die allermeisten, auch die allermeisten Künstler gefolgt. So wie die meisten immer der Mehrheit folgen. Hier fiel das entscheidende Wort: der Glaube wird zur Instanz.
Der blind Folgende und in diesem Glauben Aufgehobene fühlt: „Ich kann endlich wieder an etwas glauben, an den Sinn meiner Existenz im Aufgehen in der Masse. Dieser lähmende Zweifel ist weit hinter mir gelassen und meine lange unter einer dünnen Zivilisationsschicht verborgenen Affekte und schrecklichsten Regungen sind legitimiert worden“.
Er sagt sich: “Was mir früher als individuelle Freiheit verkauft wurde, war nichts weiter als moralische Konvention. Nun hindert mich nichts mehr, wirkliche Freiheit in die Tat umzusetzen und alles zu tun, was mir früher in meiner Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit nicht gestattet war“. Er ruft:“ Also auf! In der Gemeinschaft der Mörder zur mörderischen Tat! - denn sie schafft Macht. Die Macht der Überlebenden. Wir, die Quälenden, beleben sich an der Erniedrigung des Gequälten. Und da wir nun die Moral machen, geben wir vor zu wissen, wer zu den Gequälten und wer zu den Quälenden gehören wird. Da wir entscheiden, wird lange kein überkommenes Gesetz uns daran hindern, zu tun, was wir für richtig und notwendig erachten und aus allen Rohren proklamieren werden“.

Nun konnten auch die Dadaisten nicht umhin, Zusammenhänge herzustellen – aufklärerische Zusammenhänge – und Aufklärung, das Benennen politischer Hintergründe, war damals wie heute in ähnlicher Weise vor dem Auge des Zeitgeists verpönt. Der Mensch wird überflüssig gemacht, also ist auch die Kunst in ihrer bürgerlichen Form überflüssig und zu verneinen. Wir machen also Anti-Kunst (sagte sich deshalb der Dadaist).
Was zeichnet den Menschen aus? Die Fähigkeit zum Denken. Und alles Denken ist kritisches Denken, überprüfendes Denken (so denkt es Hannah Arendt). Das kritische Denken, die Überprüfung, behindert aber die Macht in der Freiheit der Ausübung ihrer Herrschaft. Macht man also den Menschen mit seiner Denkfähigkeit überflüssig, mutiert er zur manipulierbaren Masse. Und wir, die am Denken Bleibenden (die neuen Dadaisten), scheinen dem nichts mehr entgegenzusetzen? Aus allen labyrinthischen „dunkeldeutschen“, dunkelnationalistischen Raumkonstrukten, die in modischem Design unerleuchtet lärmend durch alle Wände dringende Hass-Injektionen ausstrahlen, vernehmen wir: die Demokratie sei eine überholte Herrschaftsform, die einem Euthanasieprogramm anheimgestellt gehöre, um den Wallungen des völkischen Blutes nicht mehr hinderlich entgegenzustehen.

Es könnte gehen, wie es immer gehen kann: die meisten sind nicht dafür, alles zu zerstören, aber sie werden von relativ wenigen Lausprechern übertönt und je mehr sie schweigen, immer mehr zum Schweigen gebracht. Jahre und Jahrzehnte lang wird erprobt und die Grenze des Sagbaren in Richtung „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ immer mehr verschoben, bis die Volksverhetzung salonfähig geworden ist. Und das ist es, was wir tun können und tun müssen: das Schweigen beenden und endlich aufstehen gegen das, was sich als „fortschrittlich“ aufführt und doch vor schlappen 70 Jahren zur absoluten Vernichtung und zuvor zum Exodus der geistigen Eliten führte.
Wenn die Lawine der Lemminge ins Rollen gebracht ist, reißt sie mit, was sie kann. –

Was ist die Karikatur des 19. Jahrhunderts (Daumier, Doré etc.), die ja hauptsächlich ein, wenn auch abgrundtief verspießertes, „Bildungsbürgertum“ aufs Korn nimmt, gegen die Gestalten, die sich heute durch die Gegend bewegen? Man sieht grenzdebile Haltungen, seelische Verwachsungen, die körperlich von keinem Erkenntnis schaffenden Bewusstsein und keinem Willen zur Reflexion verhüllt sind, die eine Verrücktheit bis zur schamlosen Verkrüppelung hervorkehren. Dieser seelische Verfall, diese behinderten Verkümmerungsstadien, gestoppten, erstarrten Entwicklungen erscheinen aber nicht bloß karikativ, sondern geradezu originär: man erliegt der Illusion von Charakteren, die endlich wieder einen individuellen Menschen zu zeigen vorgeben, der, wenn auch eine verschobene, so doch eine spezifische Haltung hat, die ihn durch eine gewisse Verunreinigung aus der Sterilität der vermassten Konsumgesellschaft herauszuheben scheint. Aber die schiere Häufung solcher Gestalten, solcher Freaks, lässt die Illusion schnell schwinden. Plötzlich erscheint das Ausmaß der Verwahrlosung einer halbautomatisierten Gesellschaft monströs, deren ständiges Sich-schön-Reden nicht mehr greift, ungeachtet davon aber zur Vollautomatisierung, zur Roboterisierung strebt.

Auch weniger bildungsferne Bevölkerungsschichten lassen sich anstecken und befeuern die Dekadenz durch die gedankenlose Reproduktion von Klischees, die eben gehört, von jedem immer und immer wiederholt werden, bis sie zu einem vorübergehenden Glaubensbekenntnis werden; vorübergehend, weil sie von ähnlichen Klischees verdrängt und überlagert werden. Durch ständige Wiederholung, das Trendsetting, verfestigt sich aber in diesen zweckentfremdeten Hirnapparaten eine Art Dogma, das die Gedankenlosigkeit zum Götzen erhebt. Sie trauen den eigenen Sinnen als Erkenntniswerkzeuge nicht mehr und halten das Denken in ihrer frivolen Faulheit für ein Sakrileg. Sie schwatzen nach, was die Spatzen von den Dächern pfeifen. Sie erliegen den Dämonen der Gerüchteküche, sehen sich aber in einer schönen, neuen und vor allem bunten Pop-Welt, die ihnen Vielfalt vorgaukelt. Was gibt es Stabileres als den Handel mit Überflüssigkeiten, was gibt es Erhabeneres, als den Spaß an der Zerstreuung? Beides gibt ihnen den Begriff vom Lebensgefühl des barocken, absolutistischen Adels, ohne sich dessen freilich bewusst zu werden, denn sie empfinden sich als das Modernste, das Fortschrittlichste, was es jemals in der Menschheitsentwicklung gegeben hat. Und vor allem: diese Redundanz, dieser, wenn auch bis zum Überdruss langweilige Überfluss scheint eine Art Wohlstandsstabilität zu beinhalten, die nicht mehr in eine atavistische Armut zurückfallen kann.

Bis vor kurzem, als die Gemeinschaft der Europäer zum Bollwerk eines nie dagewesenen Friedensprojekts beschworen wurde, als der Kolonialismus als vorsintflutliche historische Bagatelle ohne gegenwärtige Fortsetzungen und Auswirkungen gehandelt wurde, als die Stellvertreterkriege noch weit weg erschienen, wurde diese Stabilität bis zur trutzigen Unverwüstlichkeit gepriesen, wurde der darin erreichte Wohlstand und das daraus folgende „freiheitliche Glücksdasein“ bis zur Übersättigung als verwirklicht behauptet. Nun aber scheint das Gebäude plötzlich fundamental zu bröckeln, als hätte es niemand voraussehen können. „Niemand hat es vorausgesehen!“ klingt besser, weil man niemand, am wenigsten sich selbst dafür verantwortlich machen muss, als dass man sich die Denkfaulheit eingestehen müsste, unter der die Geschichte sich angeblich nicht wiederholt (allenfalls als Farce, wie Mark Twain es ausspricht).

Wenn wiederholt gesagt wird: “Niemand hat es voraussehen können!“ spätestens dann sollte man aufwachen. So wie die Dadaisten sich ihre Wachheit, ihre wache Aufmerksamkeit, nicht nehmen ließen, so sollten wir, die Neu-Dadaisten, uns die wache Aufmerksamkeit und den damit verbundenen Humor nicht nehmen lassen. Kunst hilft, weil sie der Gedankenlosigkeit widersteht. Kunst hilft, weil sie dem gedankenlos Übernommenen widerstrebt. Kunst hilft, weil sie den Raum, in dem wir leben, aufbricht. Kunst hilft, weil sie nicht ist, was uns gefällt, sondern das, was unsere Wahrnehmung erweitert. Kunst hilft, weil sie der Ohnmacht, der Angst, und der Macht entgegentritt, die Arme ausbreitet, und ein großes Gelächter anstimmt.

zur Vernissage der Ausstellung am 21. April 2017
„kleinere Formate sind größer oder kleiner als kleine Formate“
Atelier Haustr. 3/1, Oberderdingen

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