Moderne 1 - 9

Moderne 1
Kunst ist das, was der Künstler als Kunst benennt. Natürlich auch eine wichtige Maxime der Moderne, trotz und vor allem wegen ihrer regelbrechenden Eigenschaft. Denn letztlich ist es ja doch die Kreativität des Individuums, das der Sache Leben gibt (das dem „Pissoir“ Leben gibt?).
Malerei nach Jackson Pollock. Aus der Abstraktion des Bildraums, in der man sich verlieren könnte, taucht das Bedürfnis nach sichtbarer Wirklichkeit auf, Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit; natürlich keiner fotografischen Wirklichkeit (nach Klee und Picasso, nach Bacon und Giacometti), sondern eine durchs Individuum gefilterte, eine komplexe künstlerische Gegenwart, die im Kunstwerk manifestiert wird.
Obwohl wir glauben, vorwärts zu gehen, gehen wir doch immer zurück: ins schon Dagewesene, das durch unsere Impulse weiterlebt und vom Fleck kommt. Es gibt keine Zukunft aus dem Nichts.

Moderne 2
Eine weitere wichtige Komponente, die man aus der Moderne ziehen kann, ist, dass das Abbildhafte nicht die Realität ist. Realität ist immer Manipulation. Die Erkenntnis, dass man dem Anschein nicht trauen kann, dass die Wahrheit nur in einer individuellen und sich wandelnden, nicht in einer kollektiv festgelegten Wahrheit liegen kann (deshalb der gegenwärtig immer wiederkehrende Fall in den Faschismus, der die Erlösung bietet, aus den Zwängen, Aufgaben, Unsicherheiten der Individualität), dass hinter den Dingen oder jenseits der Dinge eine andre Wahrheit, eine tiefere Botschaft steckt, als uns der Anschein der Dinge glauben machen will.
Moderne heißt Suche (heißt Scheitern), wie die Kunst überhaupt eine Suche ist, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das Schlimme ist für mich das Dilemma zwischen dem Erfassen einer angestrebten Ganzheit oder Vollständigkeit und dem Scheitern des Angestrebten durch die Interpretation nicht des äußerlich unvollständig Erfassten, sondern dessen Hintergrund, der schwer entzifferbar nur durch den Prozess der Übersetzung in ein (anderes) Medium, in eine Kunstsprache erahnbar wird, vorher aber durch die Spontaneität des eigenen Geistes eine klare und erfasste Vorgabe in sich trägt, die der Vielschichtigkeit des Ausdrucks eine konkrete Richtung vorgibt.
Zum Schluss bleibt das nicht eindeutig Erkennbare, das Geheimnis. Der eingefrorene Moment (Vermeer).

Moderne 3
Ein dritter Aspekt die Synergie, der Synkretismus der Künste untereinander: optische Vibration wie der zeitliche Ablauf und die Struktur eines Musikstücks oder Gedichts. Eines Films, Balletts, Theaterstücks – einer Improvisation, einer Komposition, einer Abfolge kreativer Prozesse, die eine inhaltliche und damit konzeptionelle Aussage beinhalten und hervorrufen, die auf einer ausschließlich poetischen Ebene erfasst werden kann. Sensibilisierung – Bildung.
Das Poetische als unpolitisch zu bezeichnen, hieße, sich dem Subversivsten, weil Freisten, Losgelöstesten, sich aus seiner Angst Herausbegebenden, deshalb Vorgefasstes Sprengenden zu entledigen auf die billigste Weise.; die des Totschweigens, die des Angstproduzierens, die der Einschüchterung, - die der Entmenschlichung. Hieße sich unter dem Vorwand der Sicherung des Bestehenden auf die Seite der faktischen und latenten Zerstörung eben des Gegebenen, das ja lebendig und beweglich sein muss, zu schlagen. Man versteckt sich dann hinter Sophisterei und spielt den Besserwisser, der glaubt zu wissen, was das Bessere ist, weil er es den anderen nachbetet. Die Empfindung schafft den Gedanken. Und Angst bringt keinen eigenen Gedanken, nur das Nachbeten oder aber die Auflehnung hervor.

Moderne 4
Die Entfernung vom Mythos, von der Antwort, die das Gegebene erklärbar macht.
Was war die griechische Mythologie für die Klassik: Bildungsgut, Gleichnis oder Idealisierung des unerreichbar Gefügten? Der vielzitierte „zerrissene Mensch der Moderne“ (Flaubert, Rimbaud, Baudelaire, Joyce, Kafka, R.Walser, Pessoa) lernt in all dieser Anmaßung, in all dieser Prahlerei, die jetzt hochgespült wird wie die Kloake während einer Überschwemmung, die Demut, die Bescheidenheit als die eigentliche Tugend erkennen, denn die Dummheit ist wirklich keine ästhetische Sache, geschweige denn eine, die den Lebensgenuss, das heißt auch die Sensibilität, steigert. Ästhetik als ein Versuch der Ganzheit. Zugegeben ein romantischer Gedanke; der ein Streben deutlich macht: das Streben nach Intensität.

Moderne 5
Rückkehr zur Ikone, zur (Schnitt-) Fläche. Den Sinn und Übersinn der Fläche bis zur Oberfläche, zur Banalität und zurück in die Imagination, in den Raum des Denkbaren.
Aus Politik, die alle, ob man will oder nicht, beeinflusst, ein ästhetisches Ereignis machen: transzendieren.
Vielleicht daher auch die Übernahme des Gebots: du sollst dir kein Bildnis machen. Das Bild ist selbständig und entscheidet selbst, wann es seinen Reifegrad entwickelt hat. Die Vorstellungen des Malers, wann und wie ein Bild fertig gestellt werden sollte, werden immer eines Besseren belehrt.

Moderne 6
Der Zufall: einerseits Metaphysik, andererseits Nihilismus. (Goya: "er war ein Aufklärer ohne an die Aufklärung zu glauben.") Vorbestimmung oder Beliebigkeit: der Zufall ist der produktive Fehler, das Unerwartete. Zu Bewahrendes über die Jahrhunderte hinweg: Die Verdichtung. Spontaneität, eine Ermöglichung des Fließens. Befeuerung.

Moderne 7
Die Wirklichkeit, die sich entzieht. Es gibt kein Dahinter, es gibt nur ein Suchen nach dem Dahinter. Aber weil die Wirklichkeit sich fortwährend wandelt, das heißt, Entzug und Erscheinung sich unablässig wechseln, wird das Fragen und Staunen nicht verschwinden, sondern Grundlage geistigen Lebens. Kann man über die Wirklichkeit überhaupt eine adäquate Aussage treffen? Eine eindeutige, eindimensionale nicht. Du sollst dir deshalb kein Bild machen, weil sich das Bild ständig im Wandel befindet.

Moderne 8
Der Bruch (der Stilbruch). Entwicklung ist nicht nur gleichmäßiges Kontinuum. Sondern auch durch den Auftritt periodischer Brüche gekennzeichnet. Diese stellen ein bisher erreicht scheinendes radikal in Frage und machen einen neuen Ansatz notwendig. Eine neue Positionierung auf der Seins-Spirale muss vorgenommen werden, um wieder einen unverbrauchten Stand- und Blickpunkt einzunehmen. Ein notwendig offenes Konzept macht also Stil zum Verbrechen, zum Elaborat.

Moderne 9
Der Zweifel an der Richtigkeit der Bodenständigkeit, des Himmelsstürmerischen, des Tragfähigen, des Evolutionären, an der Richtigkeit des Erfundenen. "Ich suche nicht, ich finde!", kontert diesen Zweifel ohne ihn zu negieren (ohne ihn negieren zu können) und setzt auch auf den Zufall, der die Sinne schärft (unmöglich im Gewohnten zu verharren). Der Welt ein System ohne Zufall zuzustellen, heißt, die Anstrengung der Aufmerksamkeit nicht auf sich zu nehmen. Das (Auf-)Finden, Ergreifen, Zuordnen, also die Tat, führt den Zweifel mit sich. Jeglicher Glaube wäre ohne den Zweifel substanzlos. Er setzt die Gedanken in Gang, der Zweifel ist im Grunde das Gebet.

PS.: man kann das Debakel über die Moderne, die Postmoderne, das Lebensgefühl der Moderne, das Theatergeschrei der Post-Postmoderne etc., nicht mehr hören. Alles seit langem nur noch Attitüde, Klischee, Jetset, Verwöhntheit, Langeweile. Man erinnere sich da an die Haltung eines Kurt Schwitters, eines Raoul Hausmann. Vom freien Spiel, vom Engagement erfährt man da, von der Erfindung, von der Unterscheidung, von der Verweigerung, von der Unangepasstheit. Während meines Studiums sagte mal Per Kierkeby zu einem seiner Schüler: "Machen Sie jetzt Moderne Kunst?" Sofort war mir klar, was er meinte. Einer der wenigen Lichtblicke dieses Studiums.- Man muss Klassiker sein. Das ist die eigentliche Provokation; nicht die Schnelllebigkeit, nicht die Aufgeblasenheit, nicht die Lautstärke.

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