Die verlorene Menschlichkeit - Anlass: Donaueschinger Musiktage 2017

Dass die Ausgesetztheit des Menschen in der beginnenden Neuzeit und spätestens in der Moderne als zentrale Verfasstheit in den bedeutendsten Kunstäußerungen immer wieder übergreifend und individuell ausgelotet wurde, dürfte bekannt sein. Von Grimmelshausens Kriegserfahrungen, Moritz‘ Anton Reiser, bis hin zu Kafka und Robert Walser mit ihren skelettierten Enttäuschungen des Hoffens; von Piranesis Kerkerwelten, über C.D. Friedrichs Bodenlosigkeit, bis zu Schieles Nacktheit und Hinfälligkeit; von Jan Dismas Zelenkas konstitutiven Aufbäumungen über einem angedeuteten Abgrund, Schuberts Wanderungen in einer fast menschenleeren Welt, bis zu Klaus Hubers und B.A. Zimmermanns Anklagen der Gräuel und des Grauens im quasi totalitären Hineingeworfen-Sein; das alles könnte als adäquate Voraussetzung für das desillusionierte In-die-Welt-gestoßen-Sein und damit für einen nach wie vor aufklärerischen Kunstansatz stehen.

Wie auf keinem Festival zuvor wurde auf den Donaueschinger Musiktagen von Anfang an nach den aktuellen Trends und Tendenzen in der zeitgenössischen Musik gesucht. Je mehr sie, die neue Musik, auf der Überholspur des 20. Jahrhunderts, vom Massengeschmack abgehängt, je weniger sie nach einer Uraufführung wiederholt wurde, desto mehr wurde ihr der Vorwurf des Elitären gemacht.

Abgehängt scheint nun auch dieses Festival von der anfangs als fundamental beschriebenen Voraussetzung einer Moderne, die schon beinah vergessen scheint, je mehr der Drang nach Neuigkeiten und Sensationellem zunimmt. Neuigkeiten, die schwer zu beschaffen sind, weil sie von dieser Moderne schon vorweggenommen wurden. Sensationen, die keine Tiefendimensionen mehr haben können, weil es nicht um künstlerische Notwendigkeit im Zeitgeschmack und damit um die Sache selbst gehen kann, sondern darum, die neugierigen Nerven des Fachpublikums zu reizen.

Man erkennt die „Konzeption“ und ist verstimmt. Die Sensation ist so schon vor ihrer Inszenierung schal geworden. Der Druck nach Neuem hat sich selbst zu Fall gebracht.

Was ist nun aus der Suche nach Tendenzen geworden? Vielleicht ist es mir bis zum diesjährigen Festival verborgen geblieben, vielleicht habe ich den Glauben an die Qualität im Elitären hoch gehalten, die durch das Handwerk in der musikalischen Ausbildung und damit auch die mitgelieferten historischen Zusammenhänge gewährleistet schien, als sie vom Kunstmarkt schon längst zu Gunsten einer schlichten Warenherstellung zum Kunsthandwerk oder Schlimmerem degradiert wurde.

Eine Tendenz ist nunmehr aber schon längst auszumachen: die Leugnung des Authentischen, ja damit auch der Individualität, die auf der eigenen Sinneserfahrung begründet ist. Die Sehnsucht nach der Konstitution in der Masse, in der aufzugehen vom eigenständigen Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln entbindet, scheint nun wieder „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen zu sein, wie gesagt wird. Unter der dünnen Zivilisationsschicht zeichnen sich klaustrophobisch Gleichschaltung, Nationalgefühl, Heimatverehrung, Abgrenzung, Fremdenhass, Fanatismus, Geschichtsklitterung, Rechtsradikalität und Gewaltbereitschaft ab. Gespenster, die kontinuierlich gewachsen sind und zum Durchbruch ansetzen.

Wenn nun bei Musikstücken, Konzerten, Installationen z.B. das Publikum vor einer so gut wie leeren Bühne sitzt (Martin Schüttler) frei von ausübenden Musikern, die dahinter in aufwendigst außerhalb des Konzertsaals montierten Containern verbracht bei musikähnlichen Tätigkeiten gefilmt werden, davon Filmschnipsel abgehackt auf die Bühnenwand projiziert werden, wird der Konzertbesuch zur Absurdität. Elektronisch verfremdeter Lärm aus Lautsprechern soll diese Tätigkeiten „abbilden“. Zwei sogenannte Moderatorinnen geben randstehend nach Plan eine dümmliche Vorstellung und verlesen einen ebensolchen, vor Klischees strotzenden Text, der vielleicht sogar authentisch den Werdegang des Komponisten schildert.

Hätte ich das Konzert nicht ausgesessen, sondern hätte, wie gewollt, den Saal vorzeitig verlassen, hätte ich davor das erlebt, was dann das ganze Publikum am Ende erfahren musste: der Ausgang war versperrt! Ein älterer Mann wollte durchbrechen, aber Kartenabreißerinnen werden zu Türsteherinnen, ja könnten angewiesen plötzlich auch als KZ-Wärterinnen fungieren. Der Mann wollte per Handy wegen Freiheitsberaubung die Polizei rufen. Man wurde in den angrenzenden ebenfalls bespielten Konzertsaal geleitet, dort würde das Konzert seine Fortsetzung finden. Protest war die Folge. Man wollte sich nicht mehr gängeln lassen. Man wollte ohne Verzug hinaus!

In einem anderen Konzert saß das Publikum vor einer Mauer aus nebeneinander stehenden Verstärkern (Marina Rosenfeld), die sich vorne über die ganze Bühne zog. Am hintersten Rand der Bühne befanden sich die Musiker. Nur von der Seite teilweise einsehbar waren ihre Aktionen, die so nicht nur vom Publikum getrennt, sondern die Komposition wie in solistischen Einzelsequenzen einspielten, und vom durchgängigen Verstärkerbrummen und zeitversetzter Elektronik ihren Zusammenhalt fanden. Von einem Zusammenspiel, von einer Kommunikation auf der Bühne, von einer kommunizierenden Konzeption oder Interaktion mit den Zuhörern konnte kaum die Rede sein. Im wahrsten Sinne des Wortes sollte nicht erkannt werden, was gespielt wird. Nicht Aufklärung, die ja immer unverhohlener verunglimpft wird, sondern Verunklärung scheint angesagt. Nicht Demokratieverständnis und damit verbundene offenen Meinungsäußerung, das wird mehr und mehr als langweilig und lähmend abgetan, sondern Manipulation der Massen und suggestive Praktiken, um die Leute auf einem infantilen Bewusstseinsstadium zu halten, scheint das Gebot der Stunde zu sein.

Hat die Kunst nicht andere Aufgaben als hinter den politischen Trendvorgaben hinterherzulaufen? Muss man das gut finden? Im Gegenteil, kritisches Verständnis, wache Aufmerksamkeit sind mehr denn je und immerwährend gefragt. Kunst ist weder geselliges Entertainment, noch dekoratives Geplänkel; weder sinnleere Äußerung einer abgehobenen (Kunst-)Kaste, noch ästhetisch verbrämte Bedeutungshuberei, hinter der meist die Bedeutungsleere versteckt wird. Genauso wenig wie Geschwätz durch scheinbar brillante Rhetorik zur sinnstiftenden Äußerung wird, wird Haltungslosigkeit im Verein mit Gleichgesinnten für den auf Abstand bedachten Rezipienten überzeugender. Apropos sinnstiftend - die Beispiele scheinen zu belegen, dass Sinnstiftendes gar nicht angestrebt wird: aus Kenntnismangel (hätte die Menschheit außer Kriegen, Geschäften, Mord und Totschlag, nicht auch in allen Zeiten Geniales hervorgebracht?) oder aus billiger Übernahme des Zeitgeists (ist nicht jede Epoche mit ihren Modelieblingen gesegnet, die für ihre eingeheimsten Erfolge zeitlebens gefeiert und beneidet, spätestens nach ihrem Ableben aber schnell vergessen werden?) Ganz im Gegenteil: bequemer ist die einfache Zerstörung; nicht die Dekonstruktion, da müsste man die Konstruktion ja analysiert haben, nicht die Wahrheitsliebe, da müsste man gesellschaftliches Anecken in Kauf nehmen – und sie wäre so für einen selbst mit Leid und Schmerz verbunden. Nicht die Analyse, nicht der Kampf mit dem Material, nicht das Ringen um den Inhalt: das Schnellste, Einfachste und Wirkungsvollste ist nicht das Konstitutive, sondern die Zerstörung.

Man könnte das noch als reduktiv verkaufen, aber das ist nicht Reduktion von etwas, was vorher von seiner Komplexität verarbeitet wird, sondern eine Art tabula rasa analog zur Zerstörung sämtlicher Werte, um für die angeblich richtigen Werte wieder Platz zu schaffen: weg mit Humanismus, Aufklärung, Demokratie; her mit Nationalismus, Korpsgeist, Gewaltverherrlichung. Man könnte das als politische Kunsttat verklären, die ja in plakativster Form wieder in Mode gekommen ist. Man gängelt das Publikum, entmündigt es durch Entkernung seines vorhandenen Bewusstseins, verdummt es durch Wegnahme sämtlicher Voraussetzungen, durch die Kommunikation, das heißt, Denken, ermöglicht werden kann, um dann manipulativ „erfolgreich“ zu sein: je simpler, desto besser. Die lang erkämpfte Autonomie der Kunst - die eine Autonomie des Geistes voraussetzt und ausbilden wollte - ist längst zur Disposition gestellt und auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.

Scheinbar etwas harmloser, im Spaßgewand, kommt ein drittes Beispiel, aus dem Begleitprogramm daher. Wenn jemand die Geschichte der Claqueure in der Konzert- und Operngeschichte untersucht und sie mit den politischen Kundgebungen auch der jüngsten Vergangenheit in Beziehung setzt (allerdings nur sehr peripher und ohne Konsequenz) und sich spezielle mit einer Statistik der Applausäußerungen auf den Donaueschinger Musiktagen befasst (Bill Dietz), so ist das zunächst ehrenwerte wissenschaftliche Arbeit. Initiiert er (man begreift nicht, wer heute alles eine Professur erhält) aber eine Schule der Claqueure, die spektakuläre Beispiele von Publikumsreaktionen aus der Donaueschinger Geschichte isolierend herausgreift und manipulativ mit studentischen Mittätern auf jetzt stattfindende Konzerte überstülpt, dann wird das zum Ärgernis. Zumal die historische Reaktion des Publikums ohne die Uraufführung des Stücks, das auf spezifische Weise zu einem genau definierten Zeitpunkt gespielt und aufgenommen ist und so die damaligen technischen, mentalen, gesellschaftlichen Voraussetzungen veranschaulicht, gar nicht verstanden werden kann, soll nun diese Reaktion zu einem völlig anderen Zeitpunkt einem neuen Stück aufoktroyiert werden. Bei aller „intellektueller Überbautheit“ ist so die Geschichtsvergessenheit durch Isolierung und Zerstückelung der Zusammenhänge eine doppelte und dreifache: die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge werden sowohl im Jetzt wie im Vergangenen ignoriert, die Bezahlung der Claqueure, wie sie mit einem klaren Ziel im 19. Jahrhundert erfolgte, wird nicht geleistet, es wird versucht, das Publikum unentgeltlich zu instrumentalisieren, man provoziert Ärger und Verdruss, nicht zuletzt unter Komponisten und Musikern, die (wie die Zuhörer) nach langwieriger Arbeit eine reale Reaktion auf das soeben Verklungene erwarten. Was als Untersuchung begann, wird zum künstlerischen Werk stilisiert, was manipulative Infantilisierung ist, wird „Performance“ genannt. Ein Spiel der Intransparenz, der Verunklärung, der Fake-News. Eine Denunzierung sowohl der künstlerischen als auch der universitären Lehr-Berufe.

Man könnte nach all dem sagen: „Es ist gut, dass man darüber gesprochen hat – dann hat es sich doch allemal gelohnt“. Aber eine Provokation ohne jeglichen Inhalt endet schließlich im Faschismus. Die ideenlose Cleverness, um Aufmerksamkeit zu generieren, untergräbt schließlich den Freiraum, den auch die Kunst nicht mehr bieten soll. Die Kunst ist nur durch diesen Freiraum ein Angstfaktor für und damit ein Angriff auf die Macht. Ist dieser Freiraum schließlich zerstört, wird die Kunst ausschließlich zur puren Unterhaltung, der Zerstreuung in der Repression.

Was hat das alles nun mit Menschlichkeit, gar verlorener Menschlichkeit, zu tun? Ist diese Menschlichkeit, ihr Wertekatalog aus dem Humanismus, der ins Ungefähre, ja Unbekannte, geriet, ein Begriff, der uns über unsere eigentliche Natur belügt, der unser eigentliches Sein einengt und verkümmern lässt? (So wie es uns rechte Ideologen zu suggerieren versuchen) oder ist das wirkliche Menschsein ein evolutionäres, per aspera ad astra, nicht ein Sein, sondern ein Werden? (So wie es das Sozialtier Mensch seit Urzeiten weiß: es muss lernen, um zu werden, es muss nachdenken, um zu bleiben, es muss erfahren, um zu sein). Der Kreationist, der Rassist, der Faschist, ist immer schon – und wird immer sein - wider alle Erkenntnis. Aber nicht mal er wird als Schläger, Gewalttäter, Ideologe, Terrorist - wird als Hort der Angst geboren.

Trotzdem: dass der Mensch, damit das Menschliche, einer heillosen Spaltung unterliegt, zwischen Gut und Böse und der Entscheidungsfähigkeit zwischen beidem, ist nicht von der Hand zu weisen. Der menschliche Abgrund ist der moralische. Was kümmert ihn, den Menschen, die Wahrhaftigkeit, wenn er seine Geltungssucht befriedigen kann? Was kümmert ihn die Gerechtigkeit, wenn er seiner Gier nach Macht folgen kann? Was kümmert ihn das Gewissen, wenn er der Gewalttat freien Lauf lassen kann? Was kümmert ihn die Individualität, wenn er in der Masse mitmachen und marschieren kann? Was interessieren ihn die Konsequenzen, die daraus erwachsenden Ungleichheiten, wenn die Geschäfte laufen? Was hindert ihn die zunehmende gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich, seinen immer monströseren Reichtum zu vermehren, wenn nicht der Aufstand der Abgehängten? Aber auch den wird, mitsamt einer Weltwirtschaftskrise, ein ausgeklügeltes System der Kapitalvermehrung und –Bewahrung überstehen.

Das ist das Menschliche, das ist der Mensch. Er will wie alle anderen sein von Anfang an. Er strebt nie ein Außenseitertum an. Wenn er anders ist, sehnt er sich nach nichts mehr, als gleich unter Gleichen zu sein. Nur leidvolle Erfahrung zwingt ihn, sein Anderssein schließlich anzunehmen. Die meisten aber begeben sich ganz selbstverständlich unter die Ägide der gängigen Gepflogenheiten und bilden, von keinem Gedanken mehr behindert, die Zementierung derselben mit aus. Nimmt die manipulative Mehrheitsmeinung eine andere Richtung, dreht die Zeitmode auf den entgegengesetzten Pol, folgen sie ihr mit dem gebotenen Geifern und Eifern ohne Überlegung. Natürlich gestützt durch die Thesen der Demagogen.

Die Menschenrechte sind Zugabe; eine Zugabe, die wie die (Kunst-)Freiheit zudem immer mehr zur Disposition gestellt wird. Sie sind eine Erscheinung der jüngsten Geschichte, die beinahe einem wirklichen Wunder gleichen angesichts der europäischen Hegemonie (da sind die USA schließlich gefolgt), mit ihrer Ausbeutung, dem Kolonialismus, dem Sklavenhandel, der systematischen Plünderung mit Hilfe militärischer Intervention, der Ausfuhr von Gold und anderen Bodenschätzen bis hin zum Öl. Ein Wunder, das sich wider die Interessen der großmächtigen Handelsindustrie durchsetzte und nun der Wohlstandverwöhntheit, Nachlässigkeit, Infantilisierung, Selbstzensur und Ablenkungsgewohnheit zum Opfer fallen soll? Ströme vergossenen Bluts, mutiges Aufstehen gegen die bestehenden Ungerechtigkeiten, schließlich erkämpfte Neuerungen, Kompromissbereitschaft und Einsichtnahmen, die durch verlorene Schlachten erzwungen werden konnten - das alles soll nun von vorne beginnen, ohne jeden Erkenntnisgewinn, ohne jegliches Gelernt-Haben aus der Geschichte? Das Recht erhält die Freiheit. Nicht zuletzt die Väter des Grundgesetzes haben das gesehen. Nach Carlo Schmid: Die Demokratie muss wehrhaft gegen ihre Gegner gewappnet sein und vorgehen können. Das müsste man aus den Umtrieben während der Weimarer Republik gelernt haben.

Doch die zunehmende Repression aller Orten gebiert starke Charaktere, aus denen wieder der Freiheitsdrang und das Gewissen spricht. Auch das künstlerische und musikalische Gewissen wird hier wieder zu Äußerungen führen, die der Geschichts- und Realitätsvergessenheit die Stirn bietet.

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