Der Vermeer-Vergleich (September 2019)

Auf den ersten Blick erscheinen meine und Vermeers Bilder natürlich als absolute Gegensätze. Hier eine heile, intakte, geschützte Innenansicht einer bürgerlichen Welt – dort eine aufgewühlte, aus den Fugen geratene, verwundete Malerei über eine spekulative Wirklichkeit. Hier die vermeintliche Glätte einer idyllischen Ordnung, dort die verschorfte, aufgerissene Oberfläche einer scheinbar chaotischen Expression. Hier die Stille eines abgeklärten Raums, dort die Unruhe einer unübersichtlichen Sachlage hinter einer brutalistischen Materialschlacht. Hier der Mensch in einem poetischen Interieur, der poetische Mensch in seinem Alltag, seine alltäglichen Verrichtungen stehen still. Wie in einem Dornröschenschlaf erkennen wir Professionen und Stände. Dort der Mensch in der Masse, in der Willkür der Macht. Demagogie, Demonstrationen, Aufruhr, parlamentarische Vorgänge; Industrie, Wirtschaft, Management; Militär, Paraden, Märsche; König, Klerus, Adel, Krieger. Eine „überladene“ Historienmalerei, die niemand bestellt hat, also ohne Auftraggeber, der die Geschichtsschreibung bestimmt, entsteht – gegen die Reduktion des privilegierten und dadurch poetisch geadelten Alltags: es scheint kein größerer Gegensatz denkbar.

Zur Wirkung kommt zunächst stille Abgeklärtheit einerseits und die „grobe“ Abhandlung von flüchtigen Tagesgeschehnissen andererseits. Der Versuch einer Annäherung erscheint also sinn- und gegenstandslos.

Fasste man den Begriff der Schönheit größer, könnten gemeinsame Ströme, die im Untergrund beider Werke verlaufen, vielleicht sichtbarer oder greifbarer werden. Ordnung, Harmonie gegen Chaos und Dissonanz – das ist der erste Anschein. Wenn der Schönheitsbegriff durch Dissonanz und vermeintlicher Unübersichtlichkeit erweitert wird oder erweitert werden musste, kommen wir näher an diese untergründigen Strömungen, Verbindungen und vielleicht Gemeinsamkeiten, die über die Zeit hinweg bestehen mögen, heran. Es dreht sich also darum, hinter die Zeitfassaden zu schauen und zu erkennen: hier gibt es Parallelen in der Behandlung des zu Vollständigkeit, zur Vollendung, zur Ganzheit strebenden Werks plus (beiderseits und in anderer Weise) gesellschaftliche Relevanz und Freiheit der Malerei.

Einige mögliche Blickwinkel auf so diametral entgegengesetzt Erscheinendes möchte ich aufzeigen. Zunächst Gemeinsames, wenn auch unterschiedlich Bearbeitetes, stichpunktartig.

Das Sich-Entziehende, Verborgene; Vordergrund, Hintergrund: Schichtung, Überlagerung, Überschneidung, räumliche Staffelung, Verschachtelung; Nähe und Entfernung; detaillierte Ausarbeitung, worin sich eine autonome Malerei zeigt; Frage nach der Realität, Flüchtigkeit und Licht, beidem ist ein Thema unterworfen; Zeitstillstand, Bildraum des eingefrorenen Moments.

Die Realität ist kein „Fotorealismus“. Geht es bei Vermeer um eine Frau, die einen Liebesbrief liest (die Herrin), um eine Frau, die Milch ausgießt (die Magd) - um eine Szene in einem mit schweren Teppichen verhangenem Interieur des wohlhabenden Bürgertums, mit Landkarten an der hinteren Wand, die auf den kolonialen Aufstieg der Seefahrer- und Händlernation Holland verweisen?.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: die Gegenwart besteht aus (einer bestimmten Summe) der Vergangenheit. Lauert hinter der Feinheit der malerischen Kunst die Katastrophe, die imperiale Ermächtigung, der elaborierte Vorläufer einer globalisierten Ausbeutung? Zu sehen aber gibt es keinen Triumph, kein Entsetzen, keinen plakativen Aufschrei – es gibt keine Geschwätzigkeit.

Obwohl sich die Phantasie des Betrachters am Inhalt eines vermeintlichen Liebesbriefs entzünden mag, steht keine erzählte Geschichte im Fokus (nein, sie verbirgt sich vor Neugierde und Sensationsgier), sondern die Ausgewogenheit des damit aus der Zeit fallenden Bildes, das über seine Entstehungszeit hinaus eine eternelle Verdichtung, eine Poesie der Zeitlosigkeit ausstrahlt. Die abgewogenen Bildkompositionen Vermeers, denen ein ausgeklügeltes Konstruktionsliniensystem zugrunde liegt, lässt uns heute fast zwangsläufig an Piet Mondrian denken. –

Ein Lobgesang freilich, der eine Instanz hinter oder über den Dingen und auf lange Sicht die Weisheit des Schicksals preist, scheint für Vermeers Bilder und seiner damaligen Weltanschauung mehr verhaftet zu sein als meinem kassandrischen Finger-in-die-Wunde-Legen. Aber Spiritualität und Aufklärung schließen sich nicht aus. Geradezu das Gegenteil ist der Fall: ohne den Widerstand und die Pflicht zum Ungehorsam, gegen die vorherrschende, unhinterfragte Meinungsbildung der vermeintlich Vielen und die Überzeugungskraft der bloßen Lautstärke und der Lüge, gegen die Herrschaft der Gewalt, der Willkür und des Unrechts, gegen die Unterdrückung der Wahrheit und der Gerechtigkeit scheint keine Spiritualität möglich.

Wird der Kirche der politische Druck von unten zu groß, wird in ihren Kreisen gerne argumentiert, dass der zu verkündigende religiöse Inhalt von politischem Engagement verwässert würde. Als wenn nicht gerade diese Kreise immer auf der Seite der Zementierung (auch) diktatorischer Macht standen und stehen. Der Opportunismus gegenüber den Nationalsozialisten, die ja die Kirchen als Feinde und Konkurrenz sahen, spricht Bände. Nur wenige Pfarrer erachteten den Christusimpuls und die Bergpredigt für wichtiger als Hitler und bezahlten meistens mit ihrem Leben. Kardinäle und Bischöfe sind wohl wenige unter ihnen zu finden.

Vermeer hat nur wenige Bilder mit dezidiert religiösen Themen hinterlassen – „Jesus bei Maria und Martha“ – fällt mir ein (im Scottish National Museum) – aber das Spirituelle des Malvorgangs muss ihm bedeutsam gewesen sein, das schöpferische Tun, aus etwas vermeintlich Einfachem wie zum Beispiel der „Spitzenklöpplerin“ etwas Komplexes und Strahlendes zu machen, ein Anliegen.

Politisch Bild ist garstig Bild – wer so argumentiert, sieht wahrlich nicht den ästhetischen und poetischen Gehalt, der erst mit der Reifung des Bildes langsam zutage tritt und so die Kontemplation des Bildes erfordert. Vielleicht will mit dem Machen wie dem Betrachten ein karthartischer Vorgang verbunden sein, ein erkenntnisträchtiger Impuls, der Ergriffenheit und nicht moralisches Lippenbekenntnis zum Ziel hat.

Man kann vom ganzheitlichen Aspekt sprechen, der der wachsenden Entfremdung und Instrumentalisierung des Menschen als Konsummaschine, als unbrauchbarer Zombie in großer Masse, der der Macht globalisierter Industriegeschäfte unterworfen ist, Vollständigkeit, eine kaum mehr vorstellbare Ganzheit, nicht aber Zerstreuung und Ablenkung, entgegensetzen will.

Der im Innern leere Mensch könnte durch die Kunst, durch die Transformation und Erweiterung seiner ästhetischen Begrifflichkeiten, im weitesten Sinn durch poetische Kraft an eine seelische Tankstelle gelangen, die das abgenutzte und entleerte Wort von „den Werten“ wiederauflädt.

Die Darstellung von materiellen Werten, die von Vermeer und den Alten Meistern mit Bravour (und sicher nicht ohne Hintergedanken an den direkten Erwerb von Wohlstand), geleistet wurde, war immer mit symbolischem Inhalt verbunden. Insofern ist jedes Stillleben, jedes Interieur, ein Portrait mit bestimmten Attributen, eine Allegorie, d.h., es beinhaltet die Aufladung von Gegenständen, Begriffsanordnungen, Figuren, die bestimmte abstrakte Eigenschaften, bestimmt Werte verkörpern, die dem damaligen Betrachter kanonisch bekannt waren. Das eigentlich Sichtbare ist so immer mit nichtvisualisierbarer ethischer, philosophischer, religiöser, d.h., immaterieller Erbauung verbunden.

Dem System des gebildeten Zeitgeschmacks war so eine automatische Transzendenz der Bildbetrachtung eingebaut. Die verfeinerte Bildkunst war also auch eine Verfeinerung der sprachlichen und emotionalen Kommunikation. Sie mag viele symbolische Metaphern bedient haben, die schon längst abgewirtschaftet waren und nur noch als Klischee in den Gehirnen herumgewälzt worden sind, aber immerhin wurde eine Sprache gesprochen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt eine geistige Komponente hinzufügte.

In neuerer Zeit ging man dazu über, solch schal gewordene Klischees über Bord zu werfen und „arme“ Gegenstände und Themen mitsamt der Hässlichkeit als wesentlicher Teil der Welt für bildwürdig zu erklären. Der Gewinn an künstlerischer Autonomie wurde mit dem Verlust an herrschaftlichem Glanz erkauft. Der Wert eines Dings wird nicht mehr nach seiner hierarchischen Relevanz taxiert. Das Ding wird als solches betrachtet, als Teil der Realität, nicht stellvertretend für metaphysische Narrative oder seinem pekuniären Wert. Die Unschärferelation, besser, das Sich-Entziehen-der-Dinge“ (sowie der gesamten uns umgebenden Natur) braucht ein Medium, eine Sprache des Erfassens, dem dessen bloßes Abbilden zu wenig sein muss.

Da kommt die viel geschmähte, weil nicht mehr in die schnelllebige und voll automatisierte Zeit passende, Hochkunst Malerei ins Spiel. Die als nicht zeitgemäß verfemte, wird gerade deshalb auf brisante Weise zeitgemäß, weil hier Schnelllebigkeit und automatisierte Entfremdung durch Konzentration und Verdichtung ausgehebelt werden kann. Vertieftes Eindringen in die Materie, in die Struktur der Thematik, raus aus dem Vorgefertigten, raus aus der Klischeehaftigkeit, weg von der schmerzlosen Oberfläche, weg von den ungefährlichen Pseudo-Spiritualitäten – das kann ein angesagtes, kurzlebiges Medium kaum leisten. Die Ausweichmöglichkeiten, die Zerstreuung ist mit dessen Konsumierung wesentlich leichter zu gewährleisten. Man kann an der unterhaltenden Oberfläche bleiben, man kann Spaß haben, nicht aber Spaß an der Erfahrung von vertiefender geistiger Beschäftigung, die natürlich auch den Spaß, besser das Vergnügen, vertieft.

Das gemalte Bild ist ein „Fenster zum Hof“ der Welthaltigkeit. Andere Medien wie z.B. Film und Fotografie, sind ihm nun eingeschrieben, denn sie sind im Prozess der Motivwahl und in der Bildkonzeption entscheidende Werkzeuge.

Vermeer hätte sie, wären sie zu seiner Zeit verfügbar gewesen, sicher ebenfalls verwendet und reflektiert, was zwangsläufig zu einer anderen Malerei geführt hätte. Mit Filmschnitten, Belichtungen, mit schon in die Fläche gepresstem Raum, stellen sich Fragen nach der Wirklichkeit in veränderter Form.

Sicher hatte Vermeer, abgesehen von einigen konkurrierenden Werkstätten, nicht mit der Bilderflut im heutigen Sinn zu kämpfen, die aus allen möglichen Massenmedien gespeist wird – wobei allerdings auch seine Vorliebe für das angeschnittenen Bild im Bild verwiesen sein soll. Mich schreckt indes weniger die Bilderflut, der ich offensiv begegne, als vielmehr der horror vacui, die Ausdünnung, die Leere, die Substanzlosigkeit. Wenn ein Bild etwa aus vier Bildern zusammengesetzt wird, ist ein Perspektivwechsel erforderlich, der die Einnahme eines einzigen Standpunkts unmöglich macht. Zwar wird ein Bild, das wie ein Fenster den Blick auf einen zentralperspektivisch aufgebauten Raum frei gibt, den Betrachter eher zentriert positioniert, seine Wanderschaft ins Bild antreten lassen, aber er wird im Grunde auf einer geschichteten Fläche wandern und versuchen, zwischen den verschiedenen Bildelementen einen Zusammenhang herzustellen. Auf der Fläche vagabundierend, wird er sich den gesetzten Farbakzenten überlassen, die ihn in eine eigene Welt führen. Eine Welt der Farben, die wie Worte, wie Benennungen eine substanzielle Unterscheidung zwischen den Elementen ermöglichen und sie so eigentlich erst erschaffen. Diente diese poetische oder, sagen wir musikalische (weil Farbklänge betreffende) Aufgabe der emotionalen Einstimmung, wird sich der Verweis auf eine Wirklichkeit bemerkbar machen, die nicht illusionär unsere Wahrnehmung unhinterfragt bestätigen wird, sondern eine vibrierende Wirklichkeit bereit hält, die sich in Bewegung befindet, sich ständig entzieht und zu philosophischen Fragestellungen Anlass gibt.

So wie ein Kind schon sehr früh versucht, durch ein philosophisches (Versuchs-)Gebäude der Welt beizukommen: es schließt von der Beobachtung von Einzelheiten auf die Totalität seiner Umgebung. Das Irisierende, die Bewegung, die Vibration des Geschehens wird dem wahrnehmenden Kind immer weitere Interpretationen abnötigen. Die Lust an der Welt ist also eine sinnlich-philosophische, der Mensch von Anfang an ein potentieller Philosoph.

Was war zuerst da? Kreativität, Phantasie, die Lust am Zusammenhang – oder die Frage, das Defizit das Zu-Lernende?

Nichts ist festzuhalten, alles entzieht sich. Eine Erkenntnis, die erst nach der Kindheit Platz greift, weil ein Kind nicht auf den Grund der Dinge vorstoßen will, sondern spielerisch phantastische Zusammenhänge konstruiert und sich so die Wunder der Dinge wie Perlen einer Kette aneinanderreiht.

Der Künstler ist ohne eine moralische Grundquelle nicht denkbar, auch wenn er zu falschen, ja haarsträubenden, Schlüssen kommen mag. Sie bringt nicht unbedingt den schönsten Edelmut hervor, fördert vielleicht extrem hässliche, bornierte, verbohrte Überzeugungen und Einstellungen zutage. Das Abtauchen in diese moralische Grundquelle erfolgt aufgrund der Frage nach Gut und Böse aufgrund der menschlichen Entscheidungsfähigkeit zwischen beidem, aufgrund des Defizits von Intention und Enttäuschung.

Was ist Schicksal? Was ist Zufall? Was ist Prägung, was ist Charakter? Was ist Stärke, was Schwäche? Was Lüge, was Wahrheit? Und was ist Realität? Es ist die Wirklichkeit, die aus allen diesen Dingen und Widersprüchen besteht. Realismus ist also eine schlichte Behauptung. Fotorealismus ist eine Tautologie: mimetisch, unschöpferisch, überflüssig.

Den Bogen zu Vermeer spannt man also nicht über die Frage, was ist Stil, was ist Realismus in der Malerei, sondern was ist die Wirklichkeit der Zeit, der Vergangenheit, der Gegenwart, der Umgebung, der Wahrnehmung. Was gibt es für politische, philosophische, wissenschaftliche, religiöse, spirituelle, biographische Hintergründe dieser Wirklichkeit?

Natürlich gibt es, wie gesagt, sehr viele Unterschiede zwischen Vermeers Arbeit und meiner. Aber sie lenken genauso vom Wesentlichen ab, wie z.B. die instrumentalisierbaren Unterschiede zwischen den Weltreligionen, die betont herausgestrichen, konstruiert werden, ihre inhaltlichen Wert-Übereinstimmungen überdecken und verdrängen. Bei aller Konkretion geht es in beiden Werken um das Geheimnis des Bildes und der Welt.

Wir beginnen unsere Tätigkeiten in der Gegenwart auf eine ungewisse Zukunft richtend. Experimentell und zieloffen kämpfen wir mit den Widerständen des Materials und der Zeit. Zwangsläufig, denn geriete das Material durch die Arbeit nicht zur Materie und würde den Lauf der Dinge nicht beeinflussen, wäre das ästhetische Ergebnis vorgefasst. Ein Prozess wäre so undenkbar. Der Prozess erstarrte zur Routine. Das Ergebnis: lebloses Handwerk, Dekoration bestenfalls. Künstlerische Kreativität ereignet sich nur ergebnis- und zukunftsoffen. Wir beginnen in der Gegenwart, projizieren in die Zukunft und landen in der Vergangenheit. Eigentlich verbindet sich in der Unbeweglichkeit und Begrenztheit der Malfläche paradoxerweise Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, weil der zeitlich begrenzte Prozess zum Stillstand, zur Vollendung, gelangte. Das Bild kann nun seine Ausstrahlung, sein Geheimnis entfalten, ohne weiter einer manipulativen Zeit in Form des unstet arbeitenden Künstlers unterworfen zu sein. Glanz und Abglanz sind eins. Falls die Ausstrahlung, die Lebendigkeit, aus dem Bild tritt, dann nicht vordergründig, sondern untergründig, zunächst sich verbergend, in wandelbarer Form auftauchend und sich alsbald wieder entziehend. Spektakuläres, Turbulentes, Schrilles wird still, ausgewogen, die Vibration gelangt zur Ruhe. Was wie eine Mauer, eine (unsichtbare) Wand erst eventuell abstößt - das Bild kann nämlich spröde sein – öffnet jetzt Räume von Farbe, Licht und Weltläufigkeit. Alles ist an seinem Platz.

© Harald Kille 2019

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