Rede zu Helmut Dinkels Bildern „Fleisch“, Sulzfeld, 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“. So wie es uns die Werbung in der angrenzenden Wirtschaftswunderzeit verhieß, so lebt ein Mythos in uns weiter, der bis in atavistische Weiten der geschichtslosen Gegenwart des Steinzeitjägers reicht. Er verbrauchte mehr Kilojoule als ihm lieb war, bis das Jagdglück ihm hold, der Großsäuger erlegt und die Savanne überwunden, der Braten der Höhlen bewohnenden Hausfrau übergeben war und er nun in Erwartung einer grillfertigen Zubereitung von seinen übrig gebliebenen Fettreserven zehrte.
Wir sind Fleisch von Anbeginn an. Unsere Fleischwerdung beginnt mit der Vereinigung einiger Aminosäuren und endet im Feuer oder der Erdbestattung. Wir sind also dem Verdauungsprozess der Erdatmosphäre anheim gegeben wie das Grillfleisch dem Holzkohlenanzünder. Und dazwischen sind wir selbst ein Ofen, der durch Sauerstoffverbrennung die Verdauung befeuert, und so neue Wärmekräfte zur Entfaltung bringt.
Der Vulkan Mensch wähnt sich aber durch seine Fähigkeit zur Abstraktion seines eigenen Fleisches fern und begehrt die Vereinigung mit dem Fleisch seines Nächsten und Nachbarn, sei es durch Abgabe von Körperflüssigkeit oder durch Einverleibung kannibalischer Art.
Der Kannibalismus scheint uns so fern wie der Kommunismus, doch bei genauerem Hinsehen sind wir auf nichts anderes aus, als der Potenzierung unserer Kraft- und Machtentfaltung. Außer: uns hat eine Altersmüdigkeit oder die Krankheit einer intellektuellen Vergeistigung befallen... Wie gesagt, sowohl der Kommunismus als auch der Kannibalismus sind keine Trendsportarten im Bewusstsein des kulturbeflissenen Zeitgenossen. Er defiliert lieber vor Abbildungen, vor der gemalten Fülle konsumierbaren Inhalts aller Arten.
Und nichts anderes zeigt Helmut Dinkel hier: alles, vom Haxen über den Schinken bis hin zum Paprika, gemeindet man die Pflanzenwelt ins Essbare ein, macht er zum Gegenstand seiner Malerei. „Warum?“, wird man sich fragen. Ist es die Sublimation eines vom gesellschaftlich verbreiteten Grillwahn Verstörten, der in seinen Albträumen durch die Naherholungsgebietsauen einer Universitätsstadt wandelt, die in den Nachmittags- und Abendstunden von Giftwolken produzierenden Jugendgruppen im Abstand eines verklingenden Gitarrentons bevölkert sind, die Feuer entfachend und auf den Rost zu legende Fleischvorräte eines nahen Supermarkts in die Dunstwolken gottgefälliger Opfer verwandeln und das angrenzende Wohngebiet - wenn nicht zur zeitnahen Evakuierung - so doch zu einem kollektiven Fensterschließen zwingt, das einer Emission, die zwar zu keiner Zeit bevölkerungsgefährdend war, nicht die Vorherrschaft über den angestammten Hausmief überlässt.
Oder gibt sich der Maler hier einfach seiner angestammten Vorliebe für das Zerkauen muskelfasriger, eiweißreicher Nutztiernahrung hin? Ist er aber gleichzeitig in einen Konflikt gestürzt und kann dieser Vorliebe nicht ohne Schuldgefühle nachkommen, da er von der Partei der überraschend gewählten Landesregierung, die er mutmaßlich ebenfalls nicht selten gewählt hat, erfuhr, dass übermäßiger Fleischkonsum zur Klimaerwärmung beiträgt?
Zum dritten mit K beginnenden Wort nach Kannibalismus und Kommunismus sollten wir nun endlich kommen, da dies ja der eigentliche Grund unserer Zusammenkunft darstellt, nämlich der Kunst. Sie ist bei allem Wohlwollen nicht sonderlich nahrhaft und verbreitet im Falle von Malerei nicht selten chemische oder fossile, also appetitferne Gerüche. So ist sie aber verwandt und erinnert an den biblischen Opfermythos, der den Gott geweihten Rauch verbrannten Fleisches allenfalls erahnen lässt. Was geschieht, wenn die Farbe getrocknet und ihre Geruchsfülle eingebüßt ist? Ihre Sichtbarkeit bleibt bestehen und beschert uns, je nach thematischer Beschaffenheit, einen bereicherten Speichelfluss und somit die Vorfreude auf ein sonntägliches Büffet mit kaltem Braten, Schnittchen mit Aufschnitt oder einer anderen Vorspeise, die der mittäglichen Schlachtplatte oder einer verschiedentlich behandelten Schnitzeloberfläche mit Beilagen vorgreift.
Um dieser Vorfreude, die der Körperreflex des Speichelflusses auslöst, einige Nachhaltigkeit zu bescheren, noch einige Worte zur Kunst, einem Wort, dem ich mehr Fleisch zu geben anstellig werde: die Kunst ist dem ernährten Menschen ein Labsal, dem gebildeten Menschen eine Lust und dem politischen Menschen ein Gedicht. Helmut Dinkel beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit allen Formen der Kunst, sowohl mit Malerei, Plastik, Schrifttum und - last but not least - der Musik. Er ist unablässig interessiert an der nicht nur verdauenden, sondern auch erkenntnisträchtigen Peristaltik menschlicher Organtätigkeit.

Guten Appetit.

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