Reise nach Frankfurt

Was die Malerei zu leisten vermag, vermag die Fotografie nicht zu leisten

Behauptungen von Tiefe, Nähe und Entfernung, ja von existentieller Seelenschau: Vereinnahmung von Qualitäten, die einer vorab diffamierte Malerei entwendet wurden. Die Schnelllebigkeit mit ihrer Empfindungs- und Gedankenlosigkeit wird als zeitgemäß verkauft und damit es nicht so auffällt wird vorsichtshalber Empfindungs- und Gedankenfülle suggeriert. Es wird behauptet, dass dem Konzept, der Idee hinter dem Ganzen eine derartige Tiefe innewohnt, die auch in der Schnelligkeit der Rezeption vorauszusetzen ist (Speedführungen durch Ausstellungen und Museumsbestände). Sie, die Substanz, ist vorhanden, also muss sie nicht langwierig gesucht, wahrgenommen, hinterfragt werden. Sie ist postuliert, bevor eine Betrachtung einsetzt. Die Behauptung der Bedeutung, hinterlegt durch das Konzept, aufgebauscht im Überbau der beflissenen Erklärung, macht die Betrachtung überflüssig.
Die Suggestion von Substanz führt zur Entmündigung des Betrachters, der ja das empfangende Betrachten, das erspürende Befragen, das hinter die Dinge Schauen nicht mehr benötigt. Er wird entlastet von dem Vergnügen des eigenen Denkens.
Die Kunst wird zur Flachware, gedeckt von Divisionen von Aufblähern, die ihr Körper verleihen: die markthörige Museumsleitung, die geschichtsvergessenen Kunsthistoriker, die Klischee strickenden Medien, die kreativen Kuratoren, die Oberflächen polierenden Kritiker, die auf ihre Blasiertheit spezialisierten Kunsthändler und nicht zuletzt die willfährigen Künstler. Sie alle machen die Kunst zu einer Chimäre der Warenwelt. Man will sie haben, ohne weiter in Kommunikation treten zu müssen, Man will sie verstanden haben, ohne sich mit ihr beschäftigen zu müssen. Man will sich mit ihr schmücken, denn ihr Sinn ist das Schmücken der Leistungsträger und Wertebewahrer.

Eine Reise nach Frankfurt oder was die Malerei zu leisten vermag, die Fotografie aber nicht

Wir fuhren zwischen Weihnachen und Neujahr nach Frankfurt, um einige Ausstellungen zu sehen. Zu erwähnen wären die von Philip Guston und Theodore Gericault in der Schirn, weil beide zu ihrer Zeit und mit ihren Mitteln eine Möglichkeit fanden, Politik und Kunst zu verbinden – die gesellschaftliche Relevanz der Kunst auf exemplarische Weise zu zeigen. Das war mir von besonderem Interesse, weil mich dasselbe Anliegen beschäftigt.
Am Ankunftsabend hatten wir noch eine Stunde Zeit, um die Bilder von Philip Guston anzuschauen. Die Ausstellung war nicht sehr groß und so war dies eine erfüllte Stunde mit Malerei, die einerseits sehr konkrete Dinge, andererseits Zeichen für eine auf verschiedenste Weise gewalttätige Welt vorstellte. Die Ironie, die in der comikhaften Behandlung der Dinge und einer rigorosen, vordergründig eher hell und frisch anmutenden Malerei steckt, kontrastiert mit einem illusionslosen, düsteren Inhalt. Z.B. tauchen die Kapuzenträger des KuKluxKlan auf, immer mit den Nähten der Laken, mit denen diese Kapuzen von den Frauen der Träger höchstwahrscheinlich zusammengenäht wurden.
Wer ist Opfer, wer ist Täter? Was geschieht am helllichten Tag in den dunkelsten Räumen? Was transportiert der Fluss für verborgene Botschaften? Welche Geheimnisse tauchen aus den rosa-blutigen Fluten, die keine Geheimnisse mehr sind? Was steht im harten Tageslicht der Sonne, oder liegt unter der erleuchteten Glühbirne eines Interieurs, von was wir eigentlich nichts wissen wollten? Manchmal scheint sich schon das Vergessen darüber gebreitet zuhaben, manchmal werden wir gezwungenermaßen Zeugen eines Aufbruchs zu neuen Gewalttaten, Manchmal stehen wir vor einer solchen und spekulieren über die unbekannten Umstände auf die zweckloseste Weise, aber die Ahnung eines bestimmten Geruchs, nämlich den der Verwesung und Verwahrlosung, lässt uns nicht mehr los.
Und doch ist alles Malerei reinsten Wassers.
Wir werden die Welt durch die Malerei (oder allgemeiner die Kunst) nicht ändern – aber ohne die Kunst werden wir die Welt erst recht nicht ändern. Denn qualitative Veränderung ist die Veränderung des Einzelnen, nicht die der Masse. Es gibt keine substantielle quantitative Wahrnehmung; die Massenbewegung gerät immer nur durch die Manifestierung von Klischees und massiven Präjustierungen, die sich einbrennen wie Pech und Schwefel, in Fluss – und zwar in die gewollte Richtung.
Die Kunst nimmt den Kampf gegen das Vorgefertigte, gegen das Klischee, gegen die Dumpfheit auf, so wie dies Guston und Gericault getan haben. Kunst ist politisch, ob sie der Strategie der Massenbewegung folgt, versucht mit dem Strom zu schwimmen und sich im Mainstream zu manifestieren – dann bleibt sie eine mehr oder weniger geschätzte Ware, so wie es andere Waren auch sind, sie werden beworben und ins Bewusstsein der Leute gehämmert – oder ob sie ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht wird, nämlich die gesellschaftliche Lage von einem unabhängigen Standpunkt, dem einzig verbliebenen unabhängigen Standpunkt, zu reflektieren, ohne diese Unabhängigkeit zur Disposition zu stellen. Kunst ist Kommunikation mit dem Einzelnen.

An einem der darauf folgenden Tage besuchten wir die Gericault-Ausstellung, die erste in Deutschland überhaupt – erstaunlicherweise. Geraume Zeit früher hatte ich mich an Gericault erinnert und insgeheim den Wunsch geäußert, er möge doch in Bälde durch eine Ausstellung sichtbar werden. Vielleicht lag das ja an der schon etwas weiter zurückliegenden Lektüre von Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“, in der der Protagonist und Ich-Erzähler in einem Kapitel als evakuierter Spanienkämpfer in Paris nach dem ehemaligen Atelier von Gericault sucht. Dieses befand sich auch in der Nähe eines Hospitals, aus dem er die Leichenteile und abgetrennten Gliedmaßen bezog, die er wie Stillleben arrangierte und durch die er sich atmosphärisch auf das Floß der Medusa versetzte. Nicht zuletzt der Kannibalismus hatte das Überleben einiger weniger Schiffbrüchiger gewährleistet.
Nun also waren wir da und konnten mit der Betrachtung beginnen. Zunächst war ich etwas ernüchtert, die hochgeschraubten Erwartungen mussten erst wieder auf dem Boden der Tatsachen landen. „Ein Kind seiner Zeit, konventionelle Strichlagen bei penibel ausgeführten Bleistiftzeichnungen, das erledigt eine Delacroix-Skizze schwungvoller. Aber die Thematik: die Ambivalenz des Krieges, die Nacktheit der Armut.“
Allmählich geriet ich in den Bann des Vieldeutigen im Konkreten. Und plötzlich wird die Technik zur adäquatesten - zur Sprache dessen, was gesagt werden muss. Wagemut und Angst der Offiziere wie ihrer Pferde. Das Militär als Ordnungsmacht vom Chaos des Krieges übermannt. Der erniedrigte Mensch im Elend. Die Renitenz des Daseins unter widrigsten Umständen. Die Gewalttätigkeit der Existenz als Grundvoraussetzung des Lebens.
Ich warf einen Blick durch die offene Tür, die in die Galerie der Rotunde führte, ausgekleidet mit Fotografien der abgeschminkten Isabelle Huppert von Roni Horn. Natürlich kann eine gute Schauspielerin Seelennuancen auf dem Gesicht darstellen, natürlich kann man das fotografisch festhalten. Der Bezug zur Frage nach dem Sein bleibt Behauptung (anders wäre das im Film).Und deshalb muss durch ein Gewicht gebendes Konzept das Ganze überhöht werden. Kunst zwischen Werbung im Stadtbild, Kunst auf der Straße als angesagtes Politikum, kaum bemerkt und nicht so sonderlich neu, wie vom Publikum geglaubt werden soll.
So war ich schnell wieder bei der „konventionellen“ oder althergebrachten Malerei und Graphik und bei Gericault, dessen natures mortes abgetrennter Gliedmaßen wieder das ganze Vermögen sinnlicher und gedanklicher Leistungsfähigkeit forderte. Um was geht es hier? Um das Grauen, den Tod, um anatomisches Studieren? Es scheint als beklage die Schönheit des malerischen Arrangements das geendete Leben, das war und im Gewesensein Erfahrungen speicherte, die nun in diesen blutigen Stümpfen noch anwesend sind.
Die Dramaturgie der Ausstellung führte weiter.
Der Charakter, der durch die Physiognomie kennzeichenbar und aufzeigbar sei (Lavater); der Verbrecher, das Genie und der Verrückte, an ihnen könne exemplarisch gezeigt werden, wie das Gehirn die Bildung des Schädels beeinflusst oder gar bestimmt (Gall) – alles auf den ersten Blick überkommene Gedanken eines vergangenen Jahrhunderts – aber plötzlich dämmert einem, wie nah wir diesem Bedürfnis nach rückhaltloser Ausspähung sind: der Blick ins Innere wird durch Hirnforschung, Überwachung von Datenströmen und Datenträgern, Nacktscannern und Kreditkarten ermöglicht.
Die Zeichnungen und schließlich die Fotografien aus den Irrenhäusern zeigten charakteristische Bilder des Depressiven, des Manisch-Depressiven, des Debilen etc., der kategorisierbare Typus einer psychischen Erkrankung – die Pose des Krankheitsbildes. Und plötzlich stand man vor den Portraits der so genannten Monomanen von Gericault. Die Monomanie des Glücksspiels, Diebstahls, Kindsraubs, Neids: man hätte die Titel austauschen können. Denn es handelt sich um Portraits von Menschen, es gab keine Pose mehr. Die Suche nach der Ausprägung von spezifischen Krankheitsmerkmalen endet im Nichts. Man befindet sich vor der komplexen Außenansicht eines Individuums, das die ambivalente Innenschau wenn überhaupt nur spekulativ zulässt, keinerlei verwendbare Zuschreibungen, klischeehafte Charakterisierungen sind auszumachen. Das Geheimnis des Einzelwesens ist gewahrt. Die Monomanie des Militärischen, das fünfte bekannte Bild dieser Serie war nicht auszuleihen gewesen und durch ein Bild von Marlene Dumas ersetzt. Der direkten Vergleich mit den Gericault-Portraits, auch mit der Versicherung, die Künstlerin habe sich immer schon intensiv mit Gericault befasst, trotz dem Hinweis auf das Lapidare und daher Zeitgenössische, offenbarte aber unweigerlich das Läppische dieser Malerei.

Was die Malerei nicht immer leistet, leistet die Fotografie selten bis nimmermehr

Die Malerei hat weiterhin Relevanz. Das Bild ist dann autonom, wenn sich das Motiv entzieht. Die behauptete Bedeutung verhindert die Autonomie des Bildes. Das Bild ist gut, wenn es als Bild ad absurdum geführt wurde; das Thema/das Motiv, bestimmt und unbestimmt zugleich – in Vibration gebracht –hat an Mehrdeutigkeit gewonnen, die möglichen Bilder sind so überlagert worden, dass das Verstandenseins des Bilderverbots gewährleistet ist.
Das Bilderverbot betrifft das eindimensionale Bild; das Eindeutige wird so lange von Eindeutigkeiten überschichtet, bis ein eigentliches Bild, ein Emblem, ein Klischee nicht mehr existiert.
Der Versuch der Deutung scheitert und zieht weitere Versuche der Deutung nach sich. Das Bild hat eine eigene Wirklichkeit erlangt, seine Welthaltigkeit wird vom Betrachter entziffert, wie er die Wirklichkeit generell versucht zu entziffern. Er wird diesen Versuch immer wieder neu beginnen müssen.
Die persönlich relevanten Folien werden so lange überarbeitet, bis die Autonomie des Bildes näher rückt, d.h. was persönlich als Begegnung, Erlebnis, Erinnerung, Empfindung wichtig war, ist noch lange nicht für das autonome Bild wichtig und muss wieder und wieder überarbeitet werden, bis etwas davon Unabhängiges, aber darauf Gründendes, etwas Anderes auftaucht.
Es ist vielleicht nicht ohne weiteres zu verstehen, dass die Tätigkeit an sich die Kreativität erst hervorbringt. Jedes dekadente Hirngespinst wird als Idee bezeichnet und verkauft, wo doch die Idee für den Gehalt der künstlerischen Äußerung sowieso zweitrangig ist. Daher ist die Auskopplung des Konzepts als ausschließlicher Parameter der Kunst eine Sackgasse gewesen und wird als schnelle Möglichkeit in vielen Medien nach Belieben angewandt, um sich das zu sparen, was zur Auseinandersetzung, zur Sprachfindung in der Kunst nötig ist: die Kontinuität der Tätigkeit.

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