Frage nach der Individualität

Wer macht denn heute noch ein Selbstportrait? Wie wenn sich die Frage nach der Individualität in der so genannten Moderne von selbst erledigt hätte. Durch akzentuierte Äußerlichkeiten, z.B. beim Sprechen, die hoch stehende Zugehörigkeit zur Elite signalisieren, werden fundamentale Unsicherheiten und unangeschaute Ängste kosmetisiert. Man gehört zu der Masse der Zurechtkommenden, der Problemlosen, der Gleichgesinnten, der Eingeweihten. In dieser Hinsicht ist die Klassengesellschaft, obschon sie durch die wachsende Minderheit der vielen und damit ihres ebenso wachsenden Kampfes nach oben gekennzeichnet ist, nicht existent, das heißt, das Oben ist keineswegs von diesen Unsicherheiten verschont. Die Erniedrigung der Menschheit ist also global. Daraus resultiert auch das wiedererwachte Interesse an der Religion. Sie symbolisiert, wenn nicht die Gemeinschaft der Erwählten, so doch der würdelosen Hinfälligkeit der Einzelkreatur ein Zurückfallen in den Schoß des Massenzeremonials vorziehen zu können. Fast risikolos. Fast, weil sich der Geruch des Faschismus, des Totalitarismus aus jeder Ritze des papiernen Prachtbaus strukturell immer unverblümter meldet.

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