Kitsch und Gewalt (2019)

Kitsch und Gewalt – eine Janus-gesichtige Konstellation

In Mexiko wird eine Telenovela über eine schwule Liebesgeschichte gedreht, obwohl nicht nur in Mexiko die Gewalt gegen Homosexuelle drastisch zunimmt, sondern weltweit propagandistisch immer mehr eingefordert und angefacht wird. Kann man sich diese Raub- und Mörderbanden vorstellen, die das Land verheeren, wie sie, nachdem sie Jagd auf Frauen, Kinder, Männer, Schwule, Lesben, kleine Handeltreibende, die kein Abgaben zahlen (konnten), schlicht auf alles, was sich bewegt, machten – wie sie nach getaner Arbeit vor dieser Fernsehsoap sitzen – und herzzerreißend im Kitsch baden? Man kann. Natürlich ist sie hauptsächlich zur Einlullung des braven Volks produziert, aber wer steht dem braven Volk näher als die einfache Mafia, wenn seine Regierung dem Geldmarkt und den Investoren nahe steht (zum Beispiel Obrador und BlackRock – und zwar schon vor seiner Wahl zum „sozialistischen“ Präsidenten).

Kitsch als Entmündigungsfaktor

Um sich der Herzerweichung zu erwehren, könnte man sich auch eines hämischen Zynismus bedienen. Aber das ist nicht das eigentliche Thema: es geht um die bewusste Ablenkung, Zerstreuung, Unterhaltung („Entertain me“, Kurt Cobain) – kurz um das Abstellen des Gehirns durch die Konsumierung von Kitsch. Der Kitsch bestätigt die Annahme, dass es keine Wahrheit gibt, dass alles aus Fake News besteht, außer der Religion des Geldes, des Handels, des Kaufens und Verkaufens, der Börsen- und Immobilienspekulation etc.

Das Gewissen pocht, der Gerechtigkeitssinn tobt – aber auch nur, bis sie von den Konventionen und von der Nivellierung sämtlicher Erwartungen und Ansprüche ethischer und ästhetischer Art erschlagen worden sind. Der Adoleszent hält es seiner Altklugheit und blitzschnellen Auffassungsgabe zugute, das innere Kind so fix wie möglich zu Grabe zu tragen, um endlich befreit von Gewissen, Gerechtigkeitssinn, der Suche nach Wahrheit, leichter und ohne Zeitverschwendung durchs Leben zu kommen. Das Angekommen-Sein im Mainstream hält er fürs Erwachsen-Sein – und bleibt so mehr oder minder lebenslang. Die Gewalt, die Herzenshärte, die Skrupellosigkeit sind nun als einzig taugliche Werkzeuge erkannt, um die angesagten und immerwährenden Statussymbole einer wirkmächtigen Angesehenheit des eigenen Ichs in der Gesellschaft zu erlangen.

Sentimentalität bleibt davon unbeschadet. Wenn jemand medienwirksam proklamiert, dass der Kitsch jetzt zur Hochkultur gehört, denn er wirke für sie, die spießig-bürgerliche, wie ein Jungbrunnen, dann steigt unhinterfragt die Begeisterungsfähigkeit von Null auf Hundert, da allgemein endlich gewusst wird, was der Zeitgeist geschlagen hat.

Dass Brutalität und Sentimentalität nah beisammenstehen, wird in Gestalt des dröhnenden Bierzelts deutlich und im (kommerziellen) Bedürfnis dies in Form von flächendeckend veranstalteten „Oktoberfesten“ überall aufzustellen und zu bevölkern. Die Betäubung, die Niederschlagung feinerer Regungen zu Gunsten einer marktgängigen Gemeinschaft, einer sowohl betäubten wie ekstatischen Gleichheit der Bedürfnisse, die sich durch Fressen, Saufen, zu erwartendem Beischlaf, lautstärkeverschränkt – und mit einer haarsträubenden Sentimentalität bestärkt, wird hier zum Bild einer ländlich-ursprünglichen und „unverbildeten“ Heimatverbundenheit.

Überhaupt scheint die Toleranz unbegrenzt vorhanden und unglaubliche Erweiterungen und Freiräume zu erfahren, wenn es sich um eine einträgliche Form des Nationalismus handelt, wo der Einzelne in der Gruppe aufgeht, als „Volk“ endlich verstanden und Gehör finden wird. Einträglich, denn ganz und gar, gibt sich jeder gern hin, samt seinem Einkommen, wenn er in seinem Dasein bestätigt wird, wie er sei. Wenn er da abgeholt wird, wo er seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann, frei davon zu merken, wie sehr diese gelenkt sind.

So auch der Museumsgänger, der einer vermeintlichen Provokation durch Kitsch nicht mehr länger auf den Leim gehen muss, die Ironie erkennt, nicht zum arroganten Spaßverderber wird und in seiner Ignoranz sämtliche Offenheit vermissen lassen müsste. Er frisst die Trends wie der Oktoberfestbesucher Weißwürste mit süßem Senf, Brathendl oder Schweinshaxe. Und so hat er das Gefühl von Viel- nicht von Einfalt.

Überhaupt das Gefühl – es haben alle das Gefühl, dass – es beschleicht sie ein Gefühl von – sie werden das Gefühl nicht ganz los, dass – zum Beispiel in einer Diskussion von und mit Journalisten, in der ja argumentiert werden, politisch gedacht oder gar investigativ recherchiert worden sein sollte. Aber sie äußern, weil sie relativ unbestimmt bleiben können, im Zweifel ein Gefühl. Und es ist weniger der Zweifel über die politischen Gegebenheiten, sondern der Zweifel, was nun politisch unkorrekt sein könnte und was nicht. Das machen sich die Rechten zu Nutze und behaupten, dass bestimmte, angeblich vom Volk gemeinte, Dinge, nicht gesagt werden dürften und sie als dessen Vertreter immer zu Märtyrern gemacht würden, weil sie für diese Dinge einstünden. Judenhass, Holocaust-Leugnerei, Verschwörungstheorien der „Über-Rassung“, Verfremdung, „Versiffung“ des Abendlandes, lang angelegte Islamophobie, Schüren eines nationales Zu-kurz-Kommens ist wieder in den Köpfen verankert worden, als wäre eine neue Avantgarde geboren, als hätte man nie in Erfahrung gebracht, was dieser alles zerfressende Schwachsinn für Zerstörung, Unheil und Leid über die Menschheit gebracht hat. Die Wahrheit wird geleugnet, verdreht, Wirklichkeit als Geschichtsklitterung diffamiert. Und das alles wird so geglaubt, gefühlt und mit argumentativem Material angereichert. Diese Wahrheitsverdrehung, „alternative“ Wirklichkeitsverbildung, ist Sentimentalität, Gefühlsanhäufung; die Entfremdung von jeglicher Wahrheitsfindung, Unwille zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine Art von sentimentalem Kitsch; von gefährlichem Kitsch. Sentimentalitäten, die mit der Überzeugungskraft der Brutalität vorgetragen werden, eine Überzeugungskraft, die in ihrer Stringenz auch auf Frauen wirkt. Die Illusion einer „reinrassigen“ Zucht wäre so wieder im Möglichkeitsbereich, in Reichweite, in Arbeit.

Der Wahn hat Methode – und auf den Kunstmessen wird neureichen Loft- und Villenbesitzern bunter Kitsch großformatig angedreht – auch hier will man der Wirklichkeit nicht ins Auge blicken. Auch hier will man nicht nur betrügen, sondern auch betrogen werden. Ein Menschenrecht auf Betrug wurde und wird mit der Etablierung des Kitsches eingefordert und ist in einer ungeschriebenen Gewohnheitsverfassung fixiert worden. (Natürlich fand auch in früheren Zeiten die absichtsvolle Süße und Niedlichkeit erfolgreich Absatz, aufgeladen mit erotischem Übergriff auf verfügbare „Jungfräulichkeit“, wie zum Beispiel in der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts.)

Kitsch ist also die Zur-Schau-Stellung von Gefühlen – was im theatralen Gewerbe Schauspiel und Ballett, natürlich in Film und Fernsehen, auf besonders eklatante Weise zu Tage tritt. Die Veräußerlichung von ganzen Gefühlshaushaltskatalogen führt zu unfreiwilliger Komik oder zu immer fassungsloserem Ärgernis. Hier wird die Vernachlässigung, ja der skandalöse Mangel von ästhetisch reflektiertem Kulturverständnis innerhalb der Kunstsparten, bis zum Verzweifeln greifbar. Je mehr Darstellung, desto größer die Plattheit. Man könnte denken, die Leute müssten zwangsläufig von solchen Äußerungen unberührt und abgestoßen bleiben, aber nein, sie schwelgen mit in emotionalem Zerfließungsbedürfnis und glauben bereitwillig, großer Kunst beizuwohnen (ein Klassiker! Als Beispiel: John Neumeier vertanzt Bach und nun Gluck) oder machen zumindest das Ganze zum Verkaufserfolgsevent (ein Blockbuster!). Sämtliche andere Künste sind davon betroffen und offenbaren den desaströsen Zustand der westlich geprägten Kultur. Wie man sieht, lassen sich Gefühle sehr leicht beeinflussen und steuern (warum nicht auch zum Positiven?). Kitsch ist Manipulation von Gefühlen auf tiefgelegtem Niveau.

An eine Talsohle zu denken, erweist sich schnell als illusionär und man wird gewahr, dass Tieferlegung des intellektuellen und emotionalen Niveaus sich in freiem Fall befindet. Auch hier wird fortwährend getestet, wie weit man gehen kann – nur fehlt den Kulturschaffenden im Gegensatz zu den Rechtsradikalen das Bewusstsein, der Reflexionswille darüber, wo sie landen wollen, was ihr dezidiertes Ziel ist.

Wie dem Adel und später dem aufstrebenden Bürgertum ging es bei der Überantwortung ihrer Sprösslinge an den Klerus nicht um den Glauben, um die Religion, sondern um die Macht, um die Pfründe. So geht es den Kulturschaffenden aus der Bourgeoisie, die natürlich den Ton angeben, nur in Einzelfällen um die Sache, größtenteils aber ebenfalls um die Pfründe. Und hat man sie, wird in Anfällen von Größenwahn die Verwässerung von bestehender Substanz betrieben. Verwiesen sei nur auf die Verstümmelung und Kastrierung der großen Dramatiker und Opernkomponisten. Sie betreiben den Ausverkauf der Qualität und landen manchmal sogar ungewollt, aber zwangsläufig, beim Kitsch.

„Ich will keine dystopische Geschichte schreiben“, sagt (in dem Fall) eine Schriftstellerin, die im Gespräch bleiben will. Eine fiktive, aber mögliche Begründung könnte so aussehen: „Nein, ich will, dass ihr eure Kitschseele, eure Hoffnungsillusionen, an meinem trendsetterischen, opportunistischen Ausfluss labt. Da erschaffe ich schon bestehende Bedürfnisse in einer zunehmend prekären Entwicklung. Ihr wollt die schöne Lüge von der heilen Welt. Ihr wollt den Kopf auf Rosen gebettet, obwohl er doch im Sand steckt. Oder ihr fordert einfach nur ein, was auch selbstverständlich erscheint, den Glauben an eine fortwährend sich verbessernde Zukunft für euch und eure Nachkömmlinge, über die ihr versucht, euer Leben zu verlängern. Für euch will ich Aufmunterndes, Erheiterndes, Unterhaltendes, Zerstreuendes zum Besten geben. Für euch (und mein Renommee) will ich mich mit Fleiß im Seichten tummeln“.

Was so servil und gewaltlos daherkommen könnte, ist aber in höchstem Maße verräterisch: es wird eine Einstellung zur Abschottung zementiert, die Kritik als „Kulturpessimismus“ diffamiert.

Wer ließe sich gern das gute Leben mit „negativem Denken“ verbauen? Die Verhinderung eines positiven Lebensgefühls, als wenn nur dieses zur Wehrhaftigkeit, Leistungsfähigkeit ertüchtigte und letztlich zum Erfolg führte, wird zur Anklage gebracht und im Grunde als Nestbeschmutzung verurteilt. Die Selbstzensur ist ein machtvoller Komplize und hilfreicher Handlanger für eine Welt der Gleichschaltung. Die Unfreiheit wird höchstens von den total Abgehängten empfunden, die anderen sitzen hinter einer einkreisenden Schutzhaftmauer und wähnen sich sicher und frei, wenn sie das nötige Geld haben. Ihr Freiheitskontrakt beruht auf ihrer Entscheidung zum Mit-dem-Strom-Schwimmen, ihr Sicherheitskontrakt mit dem trügerischen Einverständnis zur Totaltransparenz der Identitäten durch die Hinterlassenschaft von Datenspuren, die sämtliche Aktivitäten erfassen („Wir haben doch nichts zu verbergen“). Die Freiheit im Netz ist ihr Heilsversprechen. Die Digital-Nativen kennen keine anderen Götter als die den virtuellen Schaumkronen des Silicon Valley Entstiegenen. Sie sind mit dem Traum einer universalen Weltgemeinschaft aufgepäppelt und verbunden worden und teilen größtenteils doch nicht mehr mit als ihre Sentimentalitäten. Auch wenn Geschäftsinteressen bestehen, werden sie durch Sentimentalitätsanreize verfolgt, verziert und verdeckt.

Doch auch die Abgehängten und die wenigen, die die (Un-)Gerechtigkeit noch im Blick haben, „können“ Internet – und plötzlich kann die Zensur abschalten – im Netz, das angeblich nichts vergisst, schon gar keine Hass-Kommentare und Beleidigungen, denn die, die sie absondern, sind die besten Kunden und Kundenfänger. So sehen es offensichtlich nicht nur die Internet-Portale, Rechenzentren und marktbeherrschenden Großfirmen, sondern auch die nationalen Gerichte. Beleidigungen werden nicht geahndet, sondern verdoppelt und als „Personenbeschreibung“ deklariert (zum Beispiel bei Renate Künast). Das Streben nach weltbeherrschender Allmacht der Konzerne wird weder durch die Feinde der Demokratie, noch durch die Verkommenheit der neoliberalen Geschäftemacher, Aktiengesellschaften und Börsengänger, sondern einzig durch einen Stromausfall gefährdet. Durch die gesetzgeberische Widerstandskraft der „freien westlichen Welt“ schon gar nicht.

Todo el mundo es Kitsch (Marc Ribot)

Dass Übergangszeiten den Lauf der Geschichte bestimmen, scheint auf der Hand zu liegen. Dass von Historikern gewollt oder ungewollt der Eindruck entsteht, geradezu jede Zeit sei eine Umbruchzeit, erscheint inflationär. Dass die jetzige eine ist, gibt noch lange nicht zu solchen Relativierungen Anlass – im Gegenteil, es gilt, diese Tatsache in den exakten Blick zu nehmen. Der Historiker hat Glück. Er kann sich verbeten, Prognosen zu stellen und sich auf die jeweilige Besonderheit der Vergangenheitsabschnitte spezialisieren. Dass aber die Vergangenheitsstrukturen die gegenwärtigen mitbedingen, dürfte jedem klar sein.

Betrachtet man die sogenannten „Goldenen 20er Jahre“, ähnelt sich bei allen Unterschieden die heutige Situation: der Tanz auf dem Vulkan, die Gärmulde am Abgrund. Naheliegend und greifbar an diesem Vergleich ist das Bedürfnis nach Zerstreuung, nach leichter Unterhaltung angesichts der Auflösung verlässlicher Strukturen und letztlich der Zerstörung in Frage gestellter Werte. Je fataler die Situation, je begieriger wird nach Ablenkung verlangt. Deshalb sind die Schönmaler gefragt, die Glitter- und Klitterburschen, die jeder Offensichtlichkeit mit Verwässerung, Verdünnung, Unsichtbarmachung begegnen und daraus bestenfalls eine Bespaßung für die Mitmenschen machen. Mit der endlosen Schwierigkeit des Seins will man sich, weil man es muss oder besser erfolgreich verdrängt, dass man es muss, nicht auch noch in der Kunst auseinandersetzen.

© Harald Kille, 2019

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