Vitakraft - der andere Lebenslauf
     
Alles Neue macht Mühe und bildet Ästhetik, weil’s weh tut. Das Fremde weitet den Horizont. Alles Unverstandene wird akzeptierbar, gar zur Heimat, aber kein Gegensatz wird aufgelöst. Die Ungewissheiten bleiben. Es gibt keine Gewissheiten„ (Luigi Nono). 
Zunächst die vier Hauptpfeiler, die zur Entwicklung einer Kille´schen Sprache führten. Vier Donnerschläge, die mein Denken geformt haben.

 

1965 John Coltrane spielt das Album „Ascension“ ein. Die Möglichkeit einer Gemeinschaft von Individuen, die mit höchst eigenem Ausdruck quasi demokratisch einen gewaltigen Aufschrei produzieren. Wie kann man spirituell sein ohne unpolitisch zu werden? Wie kann man politisch sein ohne die Spiritualität zu verlieren? Hier wird diese Frage transzendiert, als hätte sie keinerlei Gegenstand.
1964 Beginn amerikanischer Bombenangriffe auf Vietnam.
  

 

1922 Außenminister Rathenau wird ermordet („Dolchstoßlegende“).
James Joyce schreibt „Ulysses“ in Triest. Die innere und äußere Wirklichkeit ist von ständigen Brüchen, man könnte auch sagen Widerständen, durchsetzt, die einen kontinuierlichen Fluss des Bewusstseins eigentlich in Frage stellt, bliebe man auf der Ebene der Assoziation, der Gedankensplitter verhaftet. Durch Vielschichtigkeit, die Freiheit bis zum Chaos impliziert, und andererseits der Strenge des Gerüsts, also der Form, die diese Freiheit erst möglich macht, schließt sich im letzten Kapitel, dem Monolog der Molly Bloom, die gesamte Zerstückelung auf wundersame Weise. Was alles und nichts hätte sein können, wird zu einer Apotheose der Harmonie. Ein Werkzeug, das Brennglas und Fernrohr ist.
 

 

1968 Zollfreiheit zwischen den EWG-Ländern.
Die „Jimi Hendrix Experience“ gibt mehrere Konzerte im „Winterland“, San Francisco. Dort spielt Jimi Hendrix das Stück „Machine Gun“, soviel ich weiß, nicht. Hier scheitert Hendrix, ganz im Gegensatz zu „star spangled banner“, wo er die Amerikanische Nationalhymne in einem gewaltigen kreativen Akt zerfetzt, an dem Anspruch, Ästhetik und politisches Anliegen zu vereinen. Es öffnet sich ein weites Panorama, und wäre es nicht in dieser Weise weit, man müsste es fast idyllisch nennen. 
Die Schrecken des Kriegs vergegenwärtigen sich nur schematisch. Aber gerade dadurch wird das Problem zwischen ästhetischem und politischem Anspruch auf eine Weise deutlich, die zu ständigem Nachdenken über Kunst und Gesellschaft zwingt und so für mich äußerst produktiv war.
 

 

1799 General Bonaparte erhebt sich durch einen Staatsstreich zum Ersten Konsul.
1797/99 Hölderlin schreibt „Hyperion“. 
Der Inhalt, der zerrissener nicht sein könnte, wird durch die mit größter Anstrengung gehaltene Form des Briefromans bis zum Bersten, bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt weist so weit in die Moderne.
 

 

  
Und nun zu weiteren Geschehnissen:
1917 Russische Revolution, Sturz des Zaren.
Charles Darwin, Sigmund Freud, Rudolf Steiner: drei entscheidende Gedankenpräger des 20.Jahrhunderts. Per aspera ad astra aus drei verschiedenen Richtungen:
Darwins „Survival of the fittest“ (wobei die zweite wichtige Voraussetzung von Darwins Evolutionstheorie immer unterschlagen wird, nämlich die Anziehung, die Zuneigung, ohne die rein gar nichts entwickelt würde) 
Freuds Unterbewusstseinsabgrund, sein Untertage-Bergbau der sexuellen Triebkräfte, die uns ursächlich von Anfang an bestimmen sollen, und 
Steiners Möglichkeit einer geistigen und moralischen Evolution, die unter anderem auch dem Christentum und dem Humanismus geschuldet ist
alle drei prägen auf unterschiedlichste Art den Fortschrittsgedanken des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts.
1918 Revolution in Deutschland, Abdankung des Kaisers.
1921 wird Joseph Beuys in Krefeld geboren. Beuys-Steiner-Goethe, eine Einflusslinie in die Zeit. Naturwissenschaft und Erkenntnisfähigkeit als ethische Komponente der Entwicklung. Zitat Beuys: “Oft wird gesagt, ich würde viel Biographisches machen, aber offensichtlich stimmt das nicht ganz, denn ich will mich nicht mit meiner eigenen Person befassen“. 
„ ...ich mag diese Sachen nicht, die mich in meine eigenen Biographie verwickeln, in eine Arbeit, die ich bereits gemacht habe“.
1953 Stalin stirbt
Dada-Fluxus. Der Dadaismus ist das Zen der Moderne
John Cage und Morton Feldman komponieren und halten Vorträge. Mit ihnen verbindet sich aufs Überzeugendste eine durch und durch amerikanische Sicht auf die europäische Musiktradition mit dem Zen-Buddhismus. Hier hat sich spirituell ein neuer globaler Raum geöffnet.
1956 Aufstand in Ungarn. 
Jackson Pollock stirbt bei einem Autounfall. Natürlich: Ein solcher Tod begünstigt die Legendenbildung. Eine Behauptung, die sich hartnäckig hält: Pollock sei am Ende gewesen, seine Kunst habe an Kraft verloren. Eine dumme Behauptung, denn er hat zu diesem Zeitpunkt versucht, einen neuen Ansatz zu finden (was der Kunstmarkt schwer verzeiht), nämlich seine Malerei wieder mit dem Figürlichen zu verbinden (siehe auch Interview mit Brice Marden in „Cold Mountain“)
1077 Gang nach Canossa.
Gotik und Romanik. Der Künstler drückt nicht seine Individualität, sondern innerhalb eines Kanons das Weltbild seiner Zeit aus. (Verglichen die Architektur und Skulptur des Fernen Ostens, vor allem Indien, Khmer). Die Gotik, im Gegensatz zur Romanik, hat dieses romantisch brüchige In-die-Höhe-Wachsen, in dem das hierarchische Weltbild (an der Spitze Gott) durch Deutlichkeit und Absichtsfülle seinen Gehalt schon eingebüßt. Die Wucht der Romanik hat diesen eitlen Größenwahn noch nicht nötig: "Mein Herr sei eine feste Burg".
Das Romantische, das Abergläubische, auch das Aufklärerische ist nicht an ein Zeitalter gebunden, sondern taucht im Reigen verschiedener Epochengewänder immer wieder neu auf. Allerdings hat das Zeitalter der Romantik, wie alle Zeitalter, grob gesagt eine ursprüngliche, saturierte und schließlich absterbende Phase.
1789 Französische Revolution. Sturm auf die Bastille. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
Überhaupt, was sind dreihundert Jahre: Sturm und Drang, Aufklärung, Klassizismus, Romantik (Biedermeier), sind uns eigentlich zeitlich nicht sehr fern. Man kann sich vor Augen führen, dass die Luft voll ist von den Ideen der Vergangenheit. Und weil wir auch kollektiv vergesslich sind, ist diese Luft voller „neuzeitlicher“ Ideen, die natürlich rückverfolgbar alle in den „altzeitlichen“ Ideen wurzeln.
2040 v.Chr. Gudea regiert in Sumer
3000 v.Chr. Gilgamesch-Epos 
Eros und (All-)Macht. Die Frau formt den Tier-Menschen Enkidu zum Zivilisationsmenschen. Er verliert an Kraft, gewinnt aber an Kultur.

Fortsetzung folgt.

  
   
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